10.03.2023
Handlungstext Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt
Einführung
(1) Der heutige Stand der Humanwissenschaften vermittelt ein aufschlussreiches Bild: Jeder Mensch hat eine geschlechtliche Identität und eine sexuelle Orientierung. Diese sind Teil eines komplexen Entwicklungsprozesses. Sie ist nicht beliebig form- oder gar wählbar. Sie ergibt sich statt dessen aus einem Zusammenspiel biologischer Prozesse und psychosozialer Wirkfaktoren, zu denen nicht zuletzt die in dividuelle Annahme und Ausgestaltung durch die Person selbst zählen. Bereits für die Geschlechtsvarianten männlich und weiblich führen diese Entwicklungen zu einer Vielfalt von physischen, psychischen und sozialen Ausprägungen, Ausdrucksweisen und Selbstwahrnehmungen. Diese Vielfalt ist biologisch angelegt: Die biologische Geschlechtsidentität eines Menschen beruht zunächst auf dem chromosomalen Code des XX bzw. des XY auf. Sie lässt sich aber keinesfalls darauf reduzieren. Die biologische Geschlechtsidentität entwickelt sich in komplizierten Wechselwirkungen zwischen genetischen und epigenetischen Faktoren und wird vor allem maßgeblich durch das „hormonelle Geschlecht“ geprägt. Sexualhormone, wie Testosteron oder Östradistol, bestimmen alle Geschlechter, wobei sie in als männlich oder weiblich wahrgenommenen Körpern in unterschiedlichen Konzentrationswerten auftreten. „Das hormonelle Geschlecht ist im Unterschied zum genetischen Geschlecht nicht typologisch binär (das heißt strikt männlich oder weiblich), sondern prägt sich auf einer gleitenden Skala aus, bei der der individuelle Status auch zwischen den beiden Polen liegen kann.“1
(2) Humanwissenschaftliche Erkenntnisse verweisen auf die Existenz von weiteren Varianten: Als intergeschlechtlich (auch „intersexuell“) gelten Menschen, deren biologische Geschlechtsmerkmale (z. B. Mosaikbildungen der chromosomalen Struktur, äußere oder innere Geschlechtsorgane) keine eindeutig binäre Zuordnung zu entweder männlich oder weiblich zulassen. Als transgeschlechtlich (auch „transsexuell“ oder „transgender“) gelten Menschen, deren biopsychosoziale Entwicklung zu einem Geschlechtsempfinden führt, das nicht (oder zumindest nicht überwiegend) dem bei der Geburt meist auf der Basis der äußeren Geschlechtsorgane zugeordneten Geschlecht entspricht. Auch intergeschlechtliche wie transgeschlechtliche Menschen weisen eine große Vielfalt individueller Ausprägungen aus.
(3) Die Anerkennung von inter- und transgeschlechtlichen Menschen schreitet in den vergangenen Jahren in Deutschland und anderen Teilen der Welt sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich deutlich voran. So gibt es etwa seit 2017 in Deutschland die Möglichkeit eines eigenen Geschlechtseintrags für intergeschlechtliche Menschen („divers“) zusätzlich zu der Option, den Eintrag offen zu lassen.2 Mit Blick auf transgeschlechtliche Menschen sieht die derzeit diskutierte Neuregelung des Personenstandsrechtes eine umsichtige Begleitung vor, die vorschnelle Festlegungen vermeiden und stattdessen eine informiert reflektierte Entscheidungsfindung unterstützen will. Trotzdem steht eine umfängliche und gleichberechtigte Anerkennung an vielen Stellen noch aus. Parallel zu Fortschritten zeichnen sich auch gesellschaftliche, politische, religiöse und kirchliche Widerstände ab, die trans- und intergeschlechtliche Menschen in einer ohnehin unsicheren rechtlichen Situation weiterhin verunsichern, in der sie bereits viel Leid durch Ausgrenzung, medizinische und gesetzliche Grenzüberschreitung und sogar offene Gewalt erfahren.
(4) Auch im Bereich der römisch-katholischen Kirche gibt es Reaktionen auf die fortschreitenden gesellschaftlichen Debatten zum Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Jüngst wurde bekannt, dass die Internationale Theologische Kommission des Vatikans derzeit an einer grundsätzlichen Stellungnahme zum Thema Gender arbeitet.3
(5) Schon im Papier Als Mann und Frau schuf er sie. Für ei nen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen der Kongregation für das Katholische Bildungswesen von 2019 finden Trans- und Intergeschlechtlichkeit zwar erstmalig Erwähnung. Allerdings ist diese geprägt von einem Verständnis dieser Begriffe, das weder dem Selbstverständnis der betroffenen Menschen noch dem Stand der Humanwissenschaften entspricht. Von inter- und transgeschlechtlichen Menschen zu sprechen, so wird unterstellt, sei Teil einer Ideologie, deren Ziel u. a. die Auflösung oder Verdunklung der als gottgegeben erachteten und in die menschliche Natur eingeschriebenen vermeintlich klaren und ausschließlichen Distinktion zwischen Mann und Frau sei.4 In weltkirchlicher Perspektive wird in diesem Sinn von „Gender-Ideologie“ gesprochen, wenn sozial- und humanwissenschaftliche Theorien den - so die „klassische“ anthropologische Position - in der menschlichen Natur verankerten Geschlechterdualismus anfragen und auflösen.
(6) Zum einen sind solche Unterstellungen für trans- und intergeschlechtliche Menschen, insbesondere für jene, die die Kirche als ihre geistliche Heimat und einen Ort der Zuflucht sehen, schwer zu ertragen. Sie verursachen oder vertiefen Leid, tragen für manche sogar nachhaltig dazu bei, die Voraussetzung für eine liebende Gottes- und Selbstbeziehung zu beeinträchtigen. Zum anderen haben solche Aussagen, die von Amtsträgern und Gläubigen weltweit rezipiert werden, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Lebensrealität von trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Sie legitimieren und befördern Ausgrenzung, Gewalt und Verfolgung, vor denen die Kirche eigentlich zu schützen hätte. Stattdessen weisen die Lehre und das Recht der Kirche trans- und intergeschlechtlichen Personen nach wie vor höchst prekäre und verletzliche Positionen zu. Dies setzt sie in kirchlichen Räumen verstärkt missbräuchlichen Täterstrategien aus, die oftmals auf besonders verletzliche Menschen abzielen. Ihre prekäre Stellung in familiären, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexten führt zudem zu Minderheitenstress, der nachweislich das Risiko physischer und psychischer Erkrankungen, wie etwa Depression erhöht. Die Suizidalität ist bei trans- und intergeschlechtlichen Personen signifikant erhöht.
(7) Einen bemerkenswerten Kontrast zum Dokument der Bildungskongregation bildet das jüngst veröffentliche Papier der Australischen katholischen Bischofskonferenz Created and Loved. A guide for Catholic schools on identity and gender5. Darin erläutern die Bischöfe aus der Perspektive des christlichen Menschenbildes das Zueinander von biologischem und sozialem Geschlecht. Die australischen Bischöfe dokumentieren ein Ringen mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Entwicklungen, das vor allem hinsichtlich der Konsequenzen für die Gestaltung kirchlicher Lernräume beachtlich ist.
Antrag
(8) 1. Die Deutsche Bischofskonferenz bildet im Zusammenwirken mit dem ZdK, Mitgliedern des Forums IV, weiteren Expert*innen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen eine Arbeitsgruppe, die sich weiter dieser Thematik widmet. Die nachfolgenden Aspekte können schon jetzt zur Umsetzung empfohlen werden:
(9) 1.1 Für intergeschlechtliche Kinder wird ermöglicht, den Geschlechtseintrag im Taufregister wegzulassen oder, wie mittlerweile im deutschen Recht vorgesehen, „divers“ ein zutragen. Falls sich zu einem späteren Zeitpunkt der Wunsch ergibt, den Geschlechtseintrag zu ändern, wird dies un kompliziert gewährt.
(10) 1.2 Transgeschlechtlichen Gläubigen wird ebenfalls er möglicht, ihren Personenstand (Geschlechtseintrag und Vornamen) im Taufregister ändern zu lassen. Hier wie auch für Punkt 1.1. sind Standards im kirchlichen Verwaltungsrecht zu etablieren.
(11) 1.3 Falls trans- oder intergeschlechtlichen Gläubigen das Sakrament der Ehe verwehrt sein sollte, stehen ihnen Segensfeiern für ihre Partnerschaft offen. Entsprechende Vorbereitungskurse werden ebenfalls Paaren geöffnet, in denen eine oder beide Person(en) trans- und/oder intergeschlechtlich sind.
(12) 1.4 Auf pastoraler Ebene ist eine von Akzeptanz geprägte geistliche Begleitung für trans- und intergeschlechtliche Gläubige zu gewährleisten. Dazu sind nach Möglichkeit in allen (Erz-)Diözesen LSBTI*-Beauftragte einzusetzen. In Kirchengemeinden und katholischen Institutionen werden entsprechende Bildungsprogramme und -angebote aufgelegt, die das Bewusstsein und die Sensibilität für das Thema geschlechtliche Vielfalt schärfen.
(13) 1.5 Aus- bzw. Fortbildungen für Priester, Seelsorge r*innen und kirchliche Beschäftigte vermitteln das Thema geschlechtliche Vielfalt mit dem Ziel des Auf- und Ausbaus entsprechender Kompetenzen.
(14) 1.6 Personen mit einer inter- oder transgeschlechtlichen Identität dürfen nicht auf Grund ihrer Geschlechtsidentität vom pastoralen Dienst, anderen hauptamtlichen Beschäftigungsverhältnissen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten ausgeschlossen werden. Die geschlechtliche Identität stellt keinen Nichteinstellungs- oder Kündigungsgrund im Sinne der Grundordnung des kirchlichen Dienstes dar.
(15) 1.7 Kirchliche Gemeinschaften prüfen, ob und wenn, unter welchen Bedingungen inter- und transgeschlechtlichen Menschen der gleichberechtigte Zugang oder der Verbleib in einem Institut geweihten Lebens oder einer Gesellschaft des apostolischen Lebens ermöglicht werden kann.
(16) 2. Die Synodalversammlung empfiehlt dem Papst in Gemeinschaft mit dem Bischofskollegium dafür Sorge zu tragen, dass transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Menschen in unserer Kirche unbeschadet, ohne Anfeindungen und ohne Diskriminierung ihr Leben und ihren Glauben in ihrem So-Sein als Geschöpfe Gottes leben können. Dazu gehört auch, sich als Kirche explizit von Ansichten zu distanzieren, die Inter- und Transgeschlechtlichkeit als krankhafte, negative oder gar sündhaft angesehene Abweichung darstellen. Wir empfehlen im Rahmen des angestoßenen Beratungsprozesses der Internationalen Theologischen Kommission zur Erstellung einer vatikanischen Stellungnahme zum Thema Gender eine offene, ernsthafte und grundlegende theologische und humanwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlechtervielfalt. Dringenden theologisch-praktischen Handlungsbedarf sehen wir insbesondere in den folgenden Bereichen:
(17) 2.1 Eine normativ naturrechtspositivistische Geschlechteranthropologie und vor allem deren Legitimation durch Rekurs auf Gen 1,27 ist im Blick auf die Erkenntnisse moderner Bibelwissenschaft und Theologie auf den Prüfstand zu stellen.6
(18) 2.2 Jegliche Abwertung trans- und intergeschlechtlicher Menschen ist zu vermeiden. Alle kirchlichen Einrichtungen und Verantwortlichen bemühen sich um eine Sprache, welche die geschlechtliche Vielfalt wertschätzt, und unterstützen entsprechende Lernprozesse nach Kräften.
(19) 2.3 Die körperliche Unversehrtheit und Integrität intergeschlechtlicher Menschen ist von der Kirche zu achten und zu schützen. Die vatikanische Bildungskongregation hat deshalb ihre Auffassung zu überdenken, derzufolge bei Kindern ggf. sogar ohne Zustimmung der Eltern durch die Medizin eine geschlechtliche „Vereindeutigung“ in Richtung männlich oder weiblich herzustellen ist.7
(20) 2.4 Von sogenannten Konversionstherapien an transgeschlechtlichen (wie auch homo- und bisexuellen) Menschen hat sich die Kirche - unbeschadet des Rechts auf freiver antwortliche Einwilligung zu solchen Maßnahmen – unmissverständlich zu distanzieren, da durch diese Bemühungen die körperliche und psychische Integrität und Gesundheit der jeweiligen Menschen sowie ihr Glaube und Gottvertrauen massiv gefährdet werden.
(21) 2.5 Der Zugang zu den kirchlichen Weiheämtern und pastoralen Berufen darf auch für inter- und transge schlechtliche Getaufte und Gefirmte nicht pauschal ausgeschlossen sein, sondern ist in jedem Einzelfall zu prüfen.
Begründung
(22) Für die vorstehenden Empfehlungen lassen sich verschiedene Begründungen vortragen, die in den weiteren Diskussionen vertieft und geprüft werden sollten. Dabei sollen insbesondere folgende Argumente berücksichtigt werden:
(23) Neuere exegetische, historische, theologisch-anthropologische, moraltheologische und pastoral-praktische Ansätze bieten argumentative Grundlagen, um die überlieferte, verengte Geschlechteranthropologie in der kirchlichen Lehre zu überprüfen und sie unter Berücksichtigung des heute verfügbaren medizinischen, biologischen und (neuro-)psychologischen Wissens grundlegend weiterzuentwickeln. Trans- und Intergeschlechtlichkeit sind Realitäten, denen sich die Kirche stellen und die sie neu bewerten muss. Trans- und intergeschlechtliche Personen sind Teil Gottes guter Schöpfung und haben teil an der unantastbaren Würde des gottesebenbildlich geschaffenen Menschen. Die Anerkennung der Vielfalt menschlicher Existenzweisen und Geschlechtsidentitäten gehört zu einem glaubwürdigen Bekenntnis zum Schutz dieser Würde und muss das oberste handlungsleitende Gebot für die Kirche auch im Umgang mit trans- und intergeschlechtlichen Menschen sein.
(24) Jesus hat in seiner Verkündigung des Reiches Gottes die Ausgegrenzten seiner Zeit unmittelbar aufgesucht und sich ihnen zugewandt. Kriterium seiner Zuwendung waren die grenzenlose Barmherzigkeit und Anerkennung, die Gott seiner Schöpfung entgegenbringt – und nicht das Geschlecht, der soziale Status oder irgendeine gesellschaftliche „Normierung“. Die Kirche verschafft diesem Maßstab der universalen Nächstenliebe umso glaubwürdiger Geltung, je mehr sie auch für trans- und intergeschlechtliche Menschen zu einem Ort der Anerkennung wird, die ihren christlichen Glauben in der Gemeinschaft der katholischen Kirche leben möchten. Die Kirche hat durch ihr Handeln einen Anteil da ran, wenn trans- und intergeschlechtliche Gläubige sowie ihre Angehörigen und Freund*innen sich aus Selbstschutz von der Institution Kirche abwenden. Sie wird erst dann zu einem Lebens-, Begegnungs-, und Schutzraum für alle Gläubigen, wenn sie sie vorbehaltlos und einschließlich ihrer Geschlechtsidentität in ihrem Glaubensleben begleitet und fördert und zugleich anwaltschaftlich und konkret gegen jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung in Kirche und Gesellschaft eintritt.
(25) Papst Franziskus umschreibt die Kernbotschaft unseres Glaubens in seiner Enzyklika Fratelli tutti mit den Leitmotiven der universalen Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft. Diese Botschaft der alle Grenzen überwindenden Liebe ist auch in der Kirche eine „Utopie“ (FT 180, 190) bzw. ein „Traum“ (FT 6, 8 u. ö.), der handlungsleitend sein kann und soll: Er fordert dazu heraus, die jeweiligen Nächsten in ihrem jeweiligen So-Sein anzuerkennen – über alle Grenzen und Verschiedenheiten hinweg (vgl. die Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter in FT, Kap. 2). Dazu gehört auch das Leid von Menschen, die wegen ihrer geschlechtlichen Identität in der Kirche ausgegrenzt wurden und werden, zu sehen, anzuerkennen und Ursachen solcher Ausgrenzung auch in der Lehre, Verkündigung und Praxis der Kirche aufzuspüren.
Pressestelle
Wir freuen uns über Ihr Interesse an unseren Themen. Sie benötigen weitere Informationen oder sind auf der Suche nach Gesprächspartner*innen? Treten Sie mit uns in Kontakt.
Familienbund der Katholiken
Telefon: 030-326 756 0
presse@familienbund.org